Zahlen zu Ausländern in der DDR aus Europa

Fast ausschließlich Osteuropäer wurden vom Staatssekretariat für Arbeit und Löhne am 27. April 1990 noch in der DDR gezählt: also insgesamt 61.583 Personen, davon 15.704 Frauen. Aus Polen waren es allein 40.335 (8.581 Frauen).

Ein Tabu in der Nachkriegsgeschichte wird gebrochen. Aufnahme russisch-jüdischer Emigranten in der DDR.

Almuth Berger: Ein Zeitzeugenbericht

Anfang März 1990, Ost-Berlin: Erst vor wenigen Tagen bin ich in mein Büro im Alten Stadthaus in Berlin, dem Sitz des Ministerrates der DDR, gleich hinter dem Alexanderplatz, eingezogen. An der Tür steht: Staatssekretärin, Ausländerbeauftragte beim Ministerrat der DDR- noch sehr ungewohnt sind mir diese Bezeichnung und diese Funktion. Der Zentrale Runde Tisch hatte gefordert, die Stelle einzurichten. Die dringende Notwendigkeit, aber auch die Schwierigkeit, als Ansprechpartnerin für die Unmengen von Problemen in dieser Zeit totaler Umwälzungen und daraus folgender Verunsicherungen zur Verfügung zu stehen, wurde schnell deutlich.

 

Einer der ersten Besucher ist ein Mitarbeiter des Verbandes jüdischer Gemeinden in der DDR. Er stürmt völlig aufgeregt in mein Büro und erklärt: "Frau Berger, Sie müssen sofort etwas unternehmen! 100 Juden aus der Sowjetunion werden bei mir heute noch vor der Tür stehen! - Ich weiß nicht, was ich machen soll!" Die 100 hatten sich dann zwar am nächsten Tag auf zunächst einmal reale sechs Personen reduziert, aber die Problemanzeige war völlig gerechtfertigt. Und die Zahl 100 sollte auch bald mehrfach überschritten werden.

 

Tatsächlich haben sich in diesen Wochen zunächst etwa 70 jüdische Bürger aus der Sowjetunion bei verschiedenen Dienststellen in Ost-Berlin gemeldet. Sie waren mit einem Touristenvisum oder als Dienstreisende gekommen. Sie hatten gehört, dass man ihnen helfen würde, und vor allem hatten sie aus Pressemeldungen oder aus Mund-zu-Mund-Propaganda erfahren: "Deutschland nimmt". Sie wollten bleiben. Das machte sehr schnell Schlagzeilen, auch in den USA, in England, in Israel. Sollte da tatsächlich ein Tabu der Nachkriegsgeschichte gebrochen werden? Deutschland - ein Einwanderungsziel für Juden? Für viele war das nach wie vor unvorstellbar. Was waren die Hintergründe?

 

Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre lebten viele jüdische Menschen in der Sowjetunion in Angst vor einem wieder erstarkenden Antisemitismus. Besonders seit dem Wahlerfolg des Rechtsextremisten Schirinowski werden zunehmend antisemitische Übergriffe registriert. Manche jüdischen Bürger finden Flugblätter mit Morddrohungen in ihren Briefkästen. Zeitungen drucken Berichte über angebliche weltweite jüdische Intrigen. Rechtsextreme, antisemitische Organisationen wie "Pamjat" oder "Otkasniki", so genannte Vaterlandbewegungen, ängstigen viele jüdische Familien. Kindern wird das Schimpfwort "Djid" nachgerufen. Sie werden verprügelt, in der Schule angepöbelt und ausgegrenzt. in manchen Gebieten kommt es zu Brandstiftungen. Es ist keine systematische Verfolgung, aber es ist eine Stimmung, die Ängste aufkommen lässt und Unbehagen. Eine "Pogromstimmung" habe geherrscht, sagten viele der Juden, die damals kamen.

 

Einschüchternd wirkten dazu die zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, der Anstieg der Kriminalität und schließlich auch die Furcht vor Bürgerkriegen. Der beginnende Zerfall des riesigen sowjetischen Imperiums brachte Kämpfe um Unabhängigkeit vieler Gebiete mit sich, oft verbunden mit stark nationalistischen Tönen und zum Teil blutigen regionalen Fehden.

Alles das führte dazu, dass jüdische Menschen sich bedroht fühlten und zunehmend versuchten, das Land zu verlassen, zumal die Ausreisemöglichkeiten unter Gorbatschow erleichtert worden waren.

1988 verließen 20.000, 1989 bereits 85.000 und 1990 etwa 200.000 Menschen die Sowjetunion. Eigentlich war nur die Ausreise nach Israel gestattet. Viele der jüdischen Emigranten entschieden sich aber, in die USA zu gehen, gegebenenfalls über den Umweg Israel. Immerhin wanderten aber insgesamt etwa eine halbe Million Menschen aus allen Sowjetrepubliken nach Israel aus.

 

Allerdings: Das begehrte Ziel USA war nur zu erreichen, wenn man dort schon Verwandte hatte; und in Israel fühlten sich gerade russische Zuwanderer oft nicht so aufgenommen, wie sie gehofft hatten. Wo also konnte man sonst noch hin? Die DDR zur Wendezeit kam in den Blick. Juden beschlossen, nach Deutschland auszuwandern, was noch 20 oder auch nur zehn Jahre vorher undenkbar erschienen war. Aber es war ziemlich aufmerksam registriert worden, was in der DDR damals geschah und wie sich das Verhalten gegenüber Juden und jüdischen Gemeinden änderte.

 

Acht kleine, zum Teil kaum lebensfähige jüdische Gemeinden hatte es Ende der 1980er Jahre in der DDR gegeben mit insgesamt etwa noch 400 Mitgliedern (von einmal 8.000, die dem Landesverband in den 1950er Jahren angehört hatten). Dazu kam die orthodoxe Gemeinde Adass Jisroel, seit Anfang 1990 von der letzten DDR-Regierung noch offiziell anerkannt, allerdings nicht vom Zentralrat der Juden. Der problematische Umgang der DDR mit jüdischen Menschen und den jüdischen Gemeinden ist ein besonders belastetes und belastendes Kapitel in der Geschichte eines Staates, der sich auf den Antifaschismus als eine wichtige Grundlage berief. Die stalinistischen so genannten "Säuberungen" und Schauprozesse Anfang der 1950er Jahre hatten eine Fluchtwelle zur Folge. Später gab es Vereinnahmung und Instrumentalisierung der jüdischen Gemeinden durch die DDR-Führung und gleichzeitig massive Propaganda gegen Israel, die auch viel Antisemitismus enthielt. Für die Bürgerbewegungen, die zunächst mit an den Runden Tischen und dann auch in Regierungsverantwortung saßen, war die Änderung dieser Politik von Anfang an ein wichtiges Anliegen.

 

Im Januar 1990 konstituierte sich der schon seit Dezember 1989 in Entstehung begriffene Jüdische Kulturverein, der allen Personen mit jüdischem Familienhintergrund unabhängig von einer religiösen Bindung offen stand. Zum anderen gründete sich eine Gesellschaft DDR - Israel für Verständigung und Zusammenarbeit. Im gleichen Monat begann die Regierung der DDR in Kopenhagen bilaterale Verhandlungen mit dem Staat Israel über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. in Briefen an den Jüdischen Weltkongress und den israelischen Premierminister Schamir vom 8. Februar beziehungsweise 2. März 1990 erkannte der damalige Ministerpräsident Modrow zum ersten Mal die historische Verantwortung auch der DDR für den Holocaust an.

 

In Gesprächen zwischen dem damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats und Leiter des Amtes für Kirchenfragen Lothar de Maiziere und dem Präsidium des Verbandes der jüdischen Gemeinden wurde eine verstärkte Unterstützung für die Gemeinden zugesagt - finanziell, aber auch ideell. Das betraf etwa die Hilfe zur Einstellung eines Rabbiners, Klärung der Rechtslage bei Grundstücken oder eine weitgehende Unterstützung beim Aufbau des Centrum Judaicum. Bereits am 8. März 90 fasste der Ministerrat entsprechende Beschlüsse.

 

Die am 18. März 1990 neu gewählte Volkskammer der DDR hat schließlich in ihrer ersten Sitzung am 12. April1990 eine bemerkenswerte und viel beachtete Erklärung aller Fraktionen verabschiedet, in der sie die besondere historische Verantwortung der DDR thematisierte: "Das erste frei gewählte Parlament der DDR bekennt sich im Namen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zur Mitverantwortung für Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder.Wir empfinden Trauer und Scham und bekennen uns zu dieser Last der deutschen Geschichte. Wir bitten die Juden in aller Weit um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Endwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Land ...."Die Volkskammer trat für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel ein und erklärte außerdem: "Wir treten dafür ein, verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren."

 

Zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel ist es seitens der DDR nicht mehr gekommen. Bei einem gemeinsamen Israel-Besuch der Präsidentinnen von Bundestag und Volkskammer Rita Süßmuth und Sabine Bergmann-Pohl war davon zwar noch einmal die Rede, aber Israel hatte diesen politischen Schritt stets von der Anerkennung einer Wiedergutmachungsverpflichtung abhängig gemacht. Dazu war die DDR finanziell nicht mehr in der Lage.

 

Der Beschluss zur Aufnahme verfolgter Juden gewann dagegen Aktualität und Brisanz. Gerade Mitglieder der Bürgerbewegungen hatten bereits Ende 1989/Anfang 1990 die Entwicklung antisemitischer Tendenzen in der Sowjetunion und die verstärkte Auswanderung von Juden aufmerksam registriert. Der Jüdische Kulturverein hatte schon Anfang 1990, unterstützt von der Arbeitsgruppe Ausländerfragen am Zentralen Runden Tisch, folgenden Antrag an den Runden Tisch gestellt: "Wir ersuchen die Regierung der DDR, unabhängig von den geltenden Bestimmungen, den Aufenthalt für jene zu ermöglichen, die sich in der Sowjetunion als Juden diskriminiert und verfolgt sehen. Wenn ein Menschenleben in Gefahr ist, müssen die Gesetze gebrochen werden." Einstimmig machte sich der Runde Tisch diese Forderung zu Eigen. Die Gespräche dazu begannen noch in der Zeit der Modrow-Regierung; die Volkskammer-Erklärung nahm die Forderung auf.

 

Bereits Anfang April hatte ich in meiner Funktion als Ausländerbeauftragte beim Ministerrat hochrangige Vertreter des Innen- und Außenministeriums, des Amtes für Kirchenfragen sowie des jüdischen Landesverbandes zu einer Beratung eingeladen, um die Aufnahme sowjetischer Juden, ihre vorläufige Unterbringung und spätere Integration vorzubereiten. Die ersten Ankommenden brachten wir in ehemaligen Kasernen des Ministeriums für Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee unter, sorgten für Verpflegung und ein Taschengeld. Ohne dass eine gesetzliche Regelung existierte, reisten zwischen April und Juli 1990 etwa 650 Personen ein. Die jüdischen Gemeinden und der Jüdische Kulturverein bemühten sich von Anfang an um deren Begleitung und Betreuung.

 

Ich war vom Ministerpräsidenten beauftragt worden, eine Beschlussvorlage für eine gesetzliche Regelung zu erarbeiten. Das erwies sich als außerordentlich schwierig. Einerseits befürchtete die Regierung außenpolitische Schwierigkeiten, wenn man öffentlich Antisemitismus in der Sowjetunion thematisierte. Andererseits war es für den Staat Israel nicht vorstellbar, dass Deutschland ein Aufnahmeland für Juden wäre. "Es gibt keine jüdischen Flüchtlinge. Alle Juden haben ein Heimatland, und das ist Israel" erklärte der Generalkonsul Israels in Berlin. Ich habe den Vertretern der israelischen Botschaft, die zu mir kamen, damals gesagt, dass ich ihr Anliegen sehr gut verstehen würde. Aber ich bat sie um Verständnis, dass wir uns als Deutsche unmöglich weigern könnten, jüdische Menschen aufzunehmen, die selbst den Wunsch hätten, hierher zu kommen - ausgerechnet nach Deutschland, trotz der belastenden Geschichte, trotz fremdenfeindlicher und antisemitischer Vorfälle auch hier. Es waren ja bereits einige hundert Menschen gekommen - bisher vor allem nach Berlin. Sie gewaltsam abzuschieben, wäre menschlich und politisch völlig unmöglich gewesen. Es wurde also jetzt drängend, einen offiziellen Beschluss der Regierung zu haben, um dann Strukturen zur Aufnahme und Integration weiter auszubauen.

 

Am 11. Juli 1990 verabschiedete der Ministerrat schließlich den Beschluss zur Aufnahme jüdischer Menschen im Rahmen einer umfangreicheren Bestimmung "zu vorläufigen Regelungen des Aufenthaltes und des Asyls für Ausländer". Es heißt darin: "Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik gewährt zunächst in zu begrenzendem Umfang ausländischen jüdischen Bürgern, denen Verfolgung oder Diskriminierung droht, aus humanitären Gründen Aufenthalt." Weder die Sowjetunion noch das Wort Flüchtling werden erwähnt. Aber eine Grundlage zum Handeln war damit gegeben. Es wurde ein Hilfsfonds errichtet, aus dem der Unterhalt entsprechend den Regelungen zur Sozialhilfe sowie Hilfen zur Integration bereit gestellt wurden.

Wir richteten eine Anlaufstelle für Neuankömmlinge ein, das "Kontakt- und Beratungsbüro für jüdische Bürger aus Osteuropa". Dieses Büro befand sich in einem dem Ministerrat gehörenden Gebäude, dem "Haus der Ministerien", das vor 1945 das Reichspropagandaministerium von Joseph Goebbels beherbergt hatte. in dem Gebäude, das einmal ein Zentrum antisemitischer Hetze gewesen war, wurden jetzt jüdische Menschen willkommen geheißen und beraten ein symbolträchtiger Neubeginn!

 

Und es war in vieler Hinsicht Neuland für uns. in der DDR hatte es niemals eine Einwanderung größeren Ausmaßes gegeben. Es gab weder Strukturen noch zum Beispiel professionelle Sozialarbeiter. Die in früheren Jahren auch zahlenmäßig wenigen aufgenommenen so genannten "Politemigranten" waren von Partei und Solidaritätskomitee betreut worden. Für die verhältnismäßig großen Gruppen der Arbeiter innerhalb von Regierungsabkommen aus Vietnam, Mosambik und anderen Ländern gab es keinerlei Integrationsprogramme, da sie in der Regel nur für einen befristeten Zeitraum kamen. Auch hier gab es nach dem Herbst 1989 eine ganz andere Situation, die neue Konzepte erforderte. Gleichzeitig kamen ab März 1990 Tausende Flüchtlinge vor allem aus Rumänien und Bulgarien, die erst einmal untergebracht und versorgt werden mussten. Es war also an vielen Stellen gleichzeitig nötig, Konzepte zu entwickeln, Strukturen aufzubauen und nicht zuletzt die Menschen in der DDR auf diese völlig neuen Gegebenheiten vorzubereiten.

 

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