aus der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Lothar de Maizière

vor der Volkskammer der DDR am 19. April 1990

"......Aber es geht nicht nur um die letzten 40 Jahre. In Deutschland ist viel Geschichte aufzuarbeiten, vor allem die, die wir mehr den anderen zugeschoben und daher zu wenig auf uns selber bezogen haben. Aber wer den positiven Besitzstand der deutschen Geschichte für sich reklamiert, der muss auch zu ihren Schulden stehen, unabhängig davon, wann er geboren und selbst aktiv handelnd in diese Geschichte eingetreten ist.

Deutschland ist unser Erbe an geschichtlicher Leistung und geschichtlicher Schuld. Wenn wir uns zu Deutschland bekennen, bekennen wir uns zu diesem doppelten Erbe.

Doch wir bleiben bei Deutschland nicht stehen. Es geht um Europa: Wir kennen die aktuelle Schwäche der DDR. Aber wir wissen auch: Sie ist ein in seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht armes Land.

Die eigentlichen Probleme in unserer Welt - wir wissen es alle - sind nicht die deutsch-deutschen oder die Ost-West Probleme. Die eigentlichen Probleme bestehen in der strukturellen Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd. Wenn daraus nicht eine tödliche Bedrohung für das Leben der Menschen erwachsen soll, haben auch wir uns an der Überwindung dieser Ungerechtigkeit zu beteiligen. Die Errichtung einer gerechteren internationalen Wirtschaftsordnung ist nicht nur Sache der Großmächte oder der UNO, sondern ist die Aufgabe jedes Mitglieds der Völkergemeinschaft.

Auch das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern in unserem Land kann ein Beitrag zu einer neuen Qualität des Miteinanders verschiedener Völker sein. Die Klärung der Rechtslage für ausländische Mitbürger und die Einsetzung von Ausländerbeauftragten auf verschiedenen Ebenen wird dafür ebenso nötig sein wie die Förderung solcher Initiativen, die kulturelle Vielfalt als Reichtum erfahren lassen. Die Befreiung Nelson Mandelas und die Aufhebung der Apartheid in Südafrika, das Schicksal der tropischen Regenwälder und die Hilfe für die Dritte Welt bewegen uns wie unsere eigenen Probleme - ja, nicht nur "wie...." - Es sind unsere eigenen Probleme. Wir wissen, unsere Fähigkeit, die eigenen Probleme zu lösen, hängt davon ab, wie wir bereit sind, auch die Probleme der anderen zu sehen......"