Fortsetzung "Ein Tabu in der Nachkriegsgeschichte ........."

 

Über 2.000 jüdische Menschen kamen von August bis Anfang Oktober aus der Sowjetunion - darunter viele nach Ost-Berlin, aber bald auch in andere Städte der DDR. Es kamen Menschen aller Generationen; und es waren meist hervorragend ausgebildete Leute: Akademiker, Ärzte, Ingenieure, Künstler.

 

Während dieser ersten Zeit war die Aufnahme problemlos. Man reiste als Tourist ein, legte Papiere vor, die die jüdische Identität nachwiesen und bekam die Aufenthaltsgenehmigung. Dass es hier auch gelegentlich zu Missbrauch kam mit gefälschten oder gekauften Papieren, sei nur am Rande vermerkt. Ich denke, das ist eine normale Erscheinung in Zeiten großer sozialer und wirtschaftlicher Umbrüche. (gut beschrieben von Wladimir Kaminer in "Russendisko" Anm. RW)

 

 

Die soziale Betreuung wurde vor allem durch die bestehenden jüdischen Gemeinden und den Jüdischen Kulturverein geleistet. Diese organisierten Sprachkurse und Kleidersammlungen, luden zu Begegnungen ein und leisteten Dolmetscherdienste. Was sie allerdings kaum organisieren konnten und was andererseits den Einwanderern besonders fehlte, waren Arbeitsmöglichkeiten. Gerade für hoch qualifizierte Menschen gab es kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz angesichts der vielfach zusammenbrechenden Betriebe und der hohen Erwerbslosenzahlen. Da gab es viele enttäuschte Hoffnungen. Ein Teil der Immigranten versuchte, in die westlichen Bundesländer zu gehen, da dort die Arbeitslosigkeit geringer war. Außerdem fanden sie in den dortigen deutlich größeren jüdischen Gemeinden ein ausgeprägteres jüdisches Leben, und es konnten dort auch leichter Hilfen organisiert werden.

 

Daneben wurde bald die Wichtigkeit deutlich, jüdisches Wissen zu vermitteln. Da gab es einen großen Nachholbedarf. Allerdings: Die kleinen Gemeinden in der DDR fühlten sich oft damit überfordert. Hilfreich waren die Angebote der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden, die Seminare und Beratung in allen neuen Bundesländern organisierten. Das Zusammenleben zwischen den deutschen und den zahlenmäßig stark anwachsenden russischen Gemeindegliedern gestaltete sich nicht immer konfliktfrei.

 

Anderswo - zum Beispiel im Land Brandenburg - hatte es gar keine deutsche jüdische Gemeinde mehr gegeben; die dort entstehenden Gemeinden waren von Anfang an reine Einwanderer-Gemeinden. Auch das war nicht immer problemlos. Viele jüdische Einwanderer waren zudem völlig säkularisiert. Sie verstanden sich zwar als Juden, wollten aber keiner Gemeinde angehören.

 

Zu einem besonderen Problem wurde die Feststellung der jüdischen Identität. Die Gemeinden mussten sich dabei natürlich an die Religionsgesetze halten, die vorschreiben, dass die jüdische Mutter ausschlaggebend für das Jude-Sein ist. Damit wurde man aber den Umständen der Emigranten nicht gerecht, denn die sowjetische Nationalität "Jude" war am Vater orientiert. So hatten viele "nur" einen jüdischen Vater und trotzdem im Pass unter der Nationalität "Jewrej -Jude" stehen. Für die Einreise wurde zunächst sowohl die mütterliche als auch die väterliche Abstammung anerkannt. In die Gemeinde wurde indes nur aufgenommen, wer eine jüdische Mutter hatte. Seit dem Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 gilt das nun auch für die Aufnahme in Deutschland überhaupt. Man muss seitdem nicht nur deutsche Sprachkenntnisse nachweisen, sondern auch die Aufnahmebereitschaft einer jüdischen Gemeinde vorlegen. Nur wer eine jüdische Mutter hat, kann also diese Bedingung erfüllen. Das greift aber schon etwas vor. Zunächst setzte mit dem Ende der DDR und ihrem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes eine erhebliche Verunsicherung ein. Trotz vieler Bemühungen von unserer Seite ist es nicht gelungen, die Regelung der DDR-Regierung zur jüdischen Einwanderung in den Einigungsvertrag zu übernehmen. Das Ausländerrecht der Bundesrepublik enthielt keine vergleichbare Aufnahmeregelung. Man wollte auch keine größere Einwanderung haben ("Deutschland ist kein Einwanderungsland" war die Devise) , und Komplikationen mit Israel vermeiden. Andererseits konnte man die Menschen auch nicht zurückschicken; und es war bekannt, dass Tausende in der Sowjetunion schon auf ihre Ausreise warteten. Es musste also eine Lösung gefunden werden.

 

Nach zähen Verhandlungen, in die sich der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden Heinz Galinski energisch einbrachte, verständigte sich die Innenministerkonferenz auf die Regelung, alle bereits eingewanderten Juden aus der Sowjetunion als so genannte Kontingentflüchtlinge, also Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention, anzuerkennen. Beantragung und Einreise sollten in Zukunft ebenfalls gemäß diesem Gesetz in einem vereinfachten, aber eben genau geregelten Verfahren erfolgen. Wichtiges Motiv, die Einwanderung schließlich doch zuzulassen, war die Stärkung der bestehenden jüdischen Gemeinden, die sich ihrer Größe, Vielfalt und Bedeutung, die sie vor der Vernichtung durch den Holocaust in Deutschland hatten, längst nicht wieder annähern konnten.

 

Dem Beschluss der Innenminister folgte eine schwierige Phase des Übergangs. Es war jetzt nicht mehr möglich, als Tourist einzureisen und dann die Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Der Antrag musste in einer Auslandsvertretung der Bundesrepublik gestellt werden. Das Bundesverwaltungsamt prüfte und entschied über die Anträge; die Bundesländer mussten zustimmen. Erst dann wurde die Einreise genehmigt. Die Einreisewilligen wurden nach einer Quote auf die Bundesländer verteilt, die sich an der Einwohnerzahl orientierte. Wünsche der Antragsteller nach einen Zuzug in die Nähe von Familienangehörigen wurden möglichst berücksichtigt.

 

Es dauerte lange, bis sich das neue Verfahren in den Weiten der ehemaligen Sowjetunion herumgesprochen hatte. Es gab in dieser Zeit viel enttäuschte Hoffnung bis hin zur Verzweiflung von Menschen, die bereits alles in ihrer Heimat aufgegeben hatten, weil sie dachten, schnell ausreisen zu können. Nun wurden sie damit konfrontiert, viele Monate darauf warten zu müssen oder sogar mit ihrem Ausreisewunsch zu scheitern. Die oft tagelang andauernden Fahrten zur deutschen Botschaft oder den Konsulaten erschwerten die Antragstellung. Aber in den kommenden Jahren normalisierte sich das Verfahren. Auch in den aufnehmenden Bundesländern stellte sich Routine im Ablauf der Aufnahme und Verteilung auf die Kommunen ein.

 

Das Kapitel der Aufnahme jüdisch-russischer Flüchtlinge durch die DDR war mit dem Beschluss der Innenministerkonferenz beendet. Von diesem Zeitpunkt an war es ein Kapitel bundesdeutscher Ausländerpolitik, und seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes, mit dem endlich Ein- oder Zuwanderung in Deutschland offiziell akzeptiert wurde, ist es nun auch ein Kapitel bundesdeutscher Einwanderungspolitik, mit allen Vor- und Nachteilen.

 

Die Menschen, die damals in der DDR Verantwortung im Parlament und in der Regierung trugen, haben mit dazu beigetragen, dass ein Tabu der Nachkriegsgeschichte gebrochen wurde: Deutschland-ausgerechnet Deutschland!-wurde zum Einwanderungsland für jüdische Menschen. Das ist-! trotz der Probleme, die damit verbunden sind, - eine ungeheure Chance für uns alle.

 

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