Klaus Pritzkuleit

Multikulturelles Zusammenleben

Beitrag für die Ausgabe von "Nah&Fern" vom 6. November 1989

1. Integration als Problemanzeige

Seit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer in der DDR sind der Öffentlichkeit einige Zahlen bekannt.

 

166 000 Ausländer leben in der DDR. Das ist etwa 1% der Gesamtbevölkerung.

Davon sind etwa 85 000 in 800 Einsatzbetrieben als Werktätige beschäftigt, und zwar

53 000 aus Vietnam,

14 000 aus Mosambik,

10 000 aus Kuba,

6 500 aus Polen,

1 000 aus Angola,

900 aus China.

 

Im Vergleich zu anderen Ländern ist das wenig, obwohl besonders in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg spürbar war. Darum fallen uns Ausländer besonders dort auf, wo sich durch Leben und Arbeiten eine Konzentration ergibt. Natürlich bringen

sie dabei ein Stück ihrer Heimat und Kultur mit. Oft stehen wir ihnen in Kirche und Gesellschaft unvorbereitet und damit hilflos gegenüber und machen die Erfahrung, dass multikulturelles Zusammenleben nicht spannungsfrei abläuft. Zwar haben die abgeschlossenen Staatsverträge vieles geordnet, und auch unsere eigene Gesetzgebung soll die Integration rechtlich absichern und schützen. Aber inzwischen zeigen viele praktische Erfahrungen, dass die Integration so einfach nicht ist, zumal sie bei einem kleinen Teil der Bevölkerung auf Ablehnung stößt.

 

Auch muss angefragt werden, ob unter der Voraussetzung der Staatsverträge mit dem Stichwort "Integration" eine realistische Zielvorstellung beschrieben ist, Gebraucht wird dieser Begriff für die Eingliederung, ja "Einwurzelung" in eine bestehende Gesellschaft oder Gruppe, um möglichst eine "Vervollständigung" herbeizuführen, die alle Beteiligten als solche anerkennen. Einem solchen Prozess stehen vertragliche Regelungen im Wege, die wir bei der Arbeit mit Ausländern nicht außer Acht lassen dürfen:

 

  1. eine klare zeitliche Begrenzung des Aufenthalts in unserem Land,
  2. in der Regel separate Unterbringung in Wohnheimen bzw.Wohnheim-komplexen,
  3. das verständliche Anliegen der Heimatländer, erworbenes Wissen und Fähigkeiten zu Hause zu nutzen (siehe 1.).

 

Damit sind einige der vertraglichen Bindungen genannt, die vor allem die ausländischen Werktätigen betreffen. Dazu kommen Fragen und Erfahrungen, die sich aus den Regeln ergeben:

Wird Integration erreicht, wenn schon festgelegt ist, wie lange das dauern darf?

Ist es nicht unverantwortlich, jemanden integrieren zu wollen, der daheim eine wichtige Aufgabe und Funktion zur Entwicklung seines Landes heute?

Reden wir vielleicht deshalb lieber von Integration, weil wir dabei in der

"stärkeren Position" sind (der größere Kraftaufwand liegt ja zweifellos bei den Ausländern)?

Ist es hier nicht sachgerechter, von einer für uns neuen Qualität ökumenischen Teilens und von Solidarität zu sprechen und uns dabei zielstrebig an die Arbeit zu machen?

2. Problemfelder

Das Zusammenleben von Menschen mit verschiedenem kulturellen Hintergrund — also multikulturell — bringt viele Probleme. Die Ökumenische Versammlung der Kirchen in der DDR hat sie für unsere Gesellschaft und den Bereich unserer Gemeinden beschrieben. Als ein Problemkatalog sind sie im Heft 1 von "Nah & Fern" zum Teil wiedergegeben Sie bedürfen der Ergänzung durch unsere- eigenen Erfahrungen, damit wir nicht dem Gewohnheitseffekt erliegen und uns der Resignation oder gar Gleichgültigkeit hingeben.

3. Chancen

"Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich — nicht !— aufgenommen" (Matthäus 25,5-43) — dieses Wort Jesu ist nicht nur Mahnung, sondern auch Aufforderung und Zuspruch. Mit der Gegenwart von Ausländern unseres eigenen oder eines anderen Kulturkreises sind uns neue Chancen, miteinander zu teilen, gegeben, die uns nicht nur herausfordern, sondern auch ganz bestimmt bereichern werden. Hoffentlich lassen wir uns anstecken von der Lebendigkeit des Glaubens der anderen. Hoffentlich nutzen wir die Chance der unmittelbaren Information, die Möglichkeit, einander kennen zu lernen. hoffentlich wächst unser Verständnis für andere gesellschaftliche Verhältnisse.

Hoffentlich überwinden wir das Gefühl unserer eigenen Fremdheit und öffnen unseren Blick nach Osten und Süden. Hoffentlich... Multikulturelles Zusammenleben — hoffentlich!

Klaus Pritzkuleit (Berlin, 6. November 1989)

 

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