Irene Runge

Ein kleiner Verein, der Februar 1990 und die Einwanderung sowjetischer Juden

Wenn ich an den Februar 1990 denke, überschlagen sich meine Erinnerungen. Vieles ist mir heute unvorstellbar, aber damals beschleunigten die Zufälle manches Notwendige und aus Ratlosigkeit ergaben sich ungewöhnliche Taten. Hätten wir, die Aktivisten eines gerade gegründeten Jüdischen Kulturverein (JKV) Berlin, damals keine verzweifelten Anrufe aus der Sowjetunion erhalten, wäre der orthodoxe Rabbiner Tsevi Weinman aus Jerusalem nicht gerade besuchsweise bei uns in Ostberlin gewesen, hätte der Zentrale Runde Tisch anders votiert als er es tat, vermutlich wäre es nicht zu dieser speziellen Einwanderung gekommen. Doch solche Sätze sind müßig, die Geschichte findet nie im Konjunktiv statt. Sie ist konkret.

 

Wir vom JKV tranken mit dem Rabbiner Tee und redeten über unbekannte sowjetische Männer und Frauen, die in Ferngesprächen von antijüdischen Stimmungen berichteten, von Übergriffen und Hetze und ihrer Sorge um die Kinder und die eigene Zukunft in der Sowjetunion. Wir begriffen erst allmählich, dass Glasnost und Perestroika den wilden Geist des russischen Antisemitismus aus der Flasche befreit hatten. Anders gesagt: die nur notdürftig überdeckte Hemmschwelle war erheblich abgesunken. Wegen dieser Anrufe schlug uns Rabbiner Weinman, zugleich rabbinischer Rechtsanwalt, vor, der DDR-Regierung eine sofortige Grenzöffnung abzufordern. Das fanden wir zwar abwegig, gingen aber dennoch mit ihm zur sowjetischen Botschaft und ins DDR-Außenministerium. So schnell wir kamen, so schnell standen wir wieder auf der Straße. Für die einen gab es in der Sowjetunion nirgends antijüdische Ressentiments, für die anderen lebten zudem nirgends nationale Juden.

 

Niemals zuvor war je eine jüdische Einwanderung in einen der zwei deutschen Staaten in Erwägung gezogen worden. Die jüngste deutsche Vergangenheit, die Shoa, der Überfall auf die Sowjetunion, die Existenz des Staates Israel, auch die Verkürzung des Jüdischen auf die Religion, das alles waren Gründe genug, eine solche Idee nicht aufkommen zu lassen. Aber plötzlich drängten sich mit den politischen Umbrüchen und dem 1989/1990 zweifelsfreien Bekenntnis zu einer erneuerten und ungeteilten, vor allem unteilbaren deutschen Verantwortung gegenüber den Opfern des Faschismus, und – das betraf nur die DDR – gegenüber dem Staat Israel, neue Konstellationen auf. Die Eruption fremdenfeindlicher und altneuer anti-semitischer Vorurteile konnte daran nichts ändern.

 

In diese widersprüchliche Zeit platzte die Forderung des noch unbekannten Jüdischen Kulturvereins Berlin, die Grenzen der DDR ohne Vorbehalte für jene zu öffnen, die sich in der Sowjetunion wegen jüdischer Nationalität, Herkunft oder Religion bedroht sahen und diese deshalb mit Zielort Deutschland verlassen wollten. Die bisher geltende Aufnahme von Juden als politische Flüchtlinge hatten die westlichen Staaten angesichts der beginnenden Demokratisierung des ehemals sozialistischen Lagers eingestellt. Israel war nicht aller jüdischen Leute Ziel. Das haben wir seinerzeit übrigens nicht gewusst. Im Mai 1990 eröffnete die Regierung Lothar de Maiziere den einmaligen und letzten, den zugleich ersten Einwanderungsschub in die DDR überhaupt. Kurz danach war der Staat abgeschafft. Bis 31. Dezember 1990 konnte jedoch, wer davon wusste und eine jüdische Mutter oder einen jüdischen Vater nachwies, also Jude nach dem sowjetischem Nationalitätsbegriff oder nach dem jüdischem Religionsgesetz (Halacha) war, mit den auch nicht-jüdischen Angehörigen ersten Grades auf dem „jüdischen Ticket“ als Tourist in die DDR einwandern, um sich ohne die zu vermutenden Einwanderungsformalitäten hier bzw. im kurz danach vereinigten Deutschland einen neuen Lebensmittelpunkt zu schaffen.

Heute weiß ich, wie viel Glück sie und wir mit diesen letzten Regierenden hatten. Damals war es reiner Enthusiasmus, der uns davor bewahrte, beim Auftreten erster Konflikte von der Idee Abstand zu nehmen. Die Vernunft folgte auf dem Fuß.

 

In der DDR gab es immer schon solidarische Hilfe für bestimmte politisch Verfolgte, und es gab Vertragsarbeiter auf Zeit. Ersteres entsprach den persönlichsten Erfahrungen und Überzeugungen auch in der obersten politischen Führung, letzteres folgte ökonomischen Überlegungen. Nach 1945 agierten im politischen und Staatsapparat von SBZ und späterer DDR zahlreiche aktive Antifaschisten, die von 1933 bis 1945 meist als Widerstandskämpfer im In- und Ausland, verhaftet, illegal oder politische und rassische Flüchtlinge gewesen waren. Nach dem Kriegsende standen sie zum Aufbau eines sozialistischen Deutschlands bereit. Noch später war manche Hoffnung der Routine politischer Anpassung gewichen. Aus der frühen Erfahrung definierten sie das Thema Einwanderung nur politisch. Die als Verfolgte in der Zeit der DDR einreisenden kamen zumeist aus instabilen kriegerischen Ländern der 3. Welt, waren zu unterschiedlichen Zeiten Kämpfende in nationalen Befreiungsbewegungen, organisierte Gegner der faschistischen Diktaturen in Spanien, Portugal, Chile, Südafrika, Griechenland, hilfebedürftige Mitglieder aus kommunistischen- und Arbeiterparteien kapitalistischer Staaten, auch Funktionäre linker Gewerkschaften und – wie wir inzwischen wissen, auch jene, die heute verkürzt als Terroristen bezeichnet werden. Die Einzelfallprüfung führte zur Zustimmung höchster politischer Instanzen, mithin des Politbüros des ZK der SED. Von den Flüchtlingen, also politischen Emigranten, wurde erwartet, dass sie nach Ablauf ihres Exils in ihre Heimatländer zurückkehren und dort erneut politisch aktiv sein würden. Der Aufenthalt in der DDR galt als Zeit der Aus- und Fortbildung, der gesundheitlichen Rehabilitation und der politischen Schulung. Dass das Leben dieser Emigranten und ihrer Kinder auch sehr anders und nicht zwingend im Sinne der Programmatik verlaufen konnte, wurde höchstens intern diskutiert. Diese Emigranten lebten in der Regel ein anderes Leben als die Mehrheitsgesellschaft und sie gingen – sofern ihre Verfassung es erlaubte - einer Arbeit oder Ausbildung nach. Zentral war für sie die politische Lage in der Heimat, gleichzeitig sollten sie sich in die DDR einfügen. Das Konzept Integration gab noch nicht, und wenig Verständnis für die eigentlich absehbaren kulturellen-, also Migrationskonflikte. Öffentlich kommentiert und kommuniziert wurden solche Themen nicht.

 

Mit den Umbrüchen des Jahres 1989 war auch das vorbei. Der Mauerfall konfrontierte die DDR-Bevölkerung erstmals mit der Wirklichkeit der Flüchtlinge, Einwanderer und Vertragsarbeiter im eigenen, und mit der Realität von Gastarbeitern, Flüchtlingen und Eingewanderten im Nicht-Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland. Damals erwarteten nicht nur sozialistische Idealisten wie ich, dass die demokratische Neugestaltung die Öffnung der Grenzen für DDR-Bürger und eine Öffnung der DDR-Grenzen für Einwanderungswillige aus aller Welt bedeuten würde. Doch der Mehrheit der Bevölkerung ging es um das schnelle Ende der DDR, um eine rasche Vereinigung mit der Bundesrepublik, der Satz „Ausländer raus“ machte vorübergehend die Runde. Heute staune ich noch immer, wieso und dass wir, eine Handvoll Ostberliner Jüdinnen und Juden, in diesem kleinen historischen Zeitfenster dank unserer Beharrlichkeit jene damals unvorstellbare und heute nicht wegzudenkende jüdische Einwanderungswelle aus der Sowjetunion eingeleitet haben.

 

Anfang Februar 1990 war die bisherige DDR passé, doch für uns war der Zerfall des Vielvölkerstaates Sowjetunion nicht denkbar. Als sich zeigte, dass sowjetische Jüdinnen und Juden einenn solchen mit dem Ende der DDR und einer Grenzöffnung für sich selbst verknüpften, war nicht nur ich verblüfft. Sie wussten aus Erfahrung, was wiur nicht ahnten: ass den Juden nicht nur die Gorbatschow-Krise, sondern 

auch die blutigen Zeiten der Oktoberrevolution angelastet würden und fürchteten die Folgen. Der Rabbiner argumentierte so: Juden in Berlin tragen Verantwortung für andere Juden. Darum müsse die DDR-Regierung von uns angestiftet werden, wegen der dortigen Lage und als Lehre aus der deutschen Geschichte sofort die DDR-Grenze zu öffnen.

 

Am Freitag, den 5. Februar 1990, begann der Schabbat der Jahreszeit entsprechend früh. Nach Schabbatende diskutierten wir erneut, wie mit dem Problem zu verfahren sei. Die sowjetische Botschaft hatte sich wie erwartet abweisend verhalten, die Mitarbeiter des DDDR-Außenministeriums blendeten die gerade stattfindende Zeitenwende aus, der bürokratische Apparat schien gelähmt. Die vorletzte DDR-Regierung unter Premier Hans Modrow zeigte sich nicht nur in dieser Angelegenheit handlungsunfähig.

 

Organisiert hatte sich inzwischen eine breite Volksbewegung, deren Vertreter von Januar bis zu den Neuwahlen am 18. März 1990 im Berliner Schloss Niederschönhausen jeden Montag an einem Zentralen Runden Tisch tagten. Die marode Lage im Lande erzwang geradezu die Übernahme von Kontroll-, Vorschlag- und Vetorechten. Überall gab es ab jetzt solche demokratischen Einrichtungen. Heute wird daran kaum erinnert, obgleich gerade sie den friedlichen Übergang sicherten.

 

Wir vom Jüdischen Kulturverein hatten in dieser Atmosphäre mit Hilfe des Rabbiners jenen Aufruf verfasst, der Botschaft und Außenministerium so gleichgültig ließ: „….Seit Wochen hören wir von antijüdischen Pogromdrohungen in verschiedenen sowjetischen Städten…. Eingedenk der Tatsache, dass bei der Judenverfolgung und –vernichtung durch den deutschen Faschismus die ganze Welt zugesehen hat, rufen wir auf, die deutsche Schmach der Vergangenheit nicht zu wiederholen. … Deshalb fordern wir, dass die DDR Voraussetzungen zur sofortigen Aufnahme von sowjetischen Juden, die es wünschen, … schafft …“.

 

Diesen Text stellte ich am 8. Februar bei der „Arbeitsgruppe Ausländerfragen“ am Zentralen Runden Tisch vor. Die Arbeitsgruppe war eine der „Unterabteilungen“, die wie andere kleinere „Tische“ zu Sachfragen und zwar parallel zum Zentralen Runden Tisch tagten. Dass ich dort einen Platz hatte, verdankte ich u.a. einer Publikation, die mit Studenten verfasst und unter dem Titel „Ausländerhass DDR“ entstanden war und anderen Aktivitäten auf diesem Gebiet. Moderator an unserem Tisch war Pfarrer Christfried Berger, der wie seine Frau Almuth in der Bürgerrechtsbewegung aktiv und als Vermittler erfahren war. Schwerpunkte der Arbeit waren u.a. die Klärung des Ist-Standes, die Lage von Ausländern, zu verändernde Aufenthalts- und Arbeitsrechtbestimmungen für Vertragsarbeiterinnen und –arbeiter, die Festlegung von Einwanderungsmodalitäten und das Thema Asyl.

 

An jenem Montag ging es, wie im Protokoll unter „Verschiedenes“ nachlesbar, auch um das von mir angestoßene jüdische Problem in der Sowjetunion und die Reaktionen von DDR-Außenministerium und sowjetischer Botschaft. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe schlossen sich nach einigen Rückfragen der Forderung nach einer Grenzöffnung sofort an. Nach 19.30 Uhr, so die Regel, konnten derart einstimmig beschlossene Arbeitsgruppen-Anträge den Vertretern am Zentralen Runden Tisch zur Annahme vorgetragen werden. Wolfgang Templin, damals „Initiative Jetzt“, verlas unseren nunmehr gemeinsamen Aufruf vor laufenden Kameras. Einstimmig votierten auch die Vertreter am Zentralen Runden Tisch. Damit hätte die DDR-Regierung Schritte einleiten müssen, damit, wer sich in der Sowjetunion wegen jüdischer Nationalität, Herkunft oder Religion diskriminiert oder verfolgt sah, in die noch-DDR einreisen könnte. Aber die amtierende Modrow-Regierung tat nichts dergleichen. Über die Gründe kann ich nur spekulieren. Der Staat DDR war bereits in Auflösung, die Bundesrepublik gab den Weg vor, die Krise hatte ihre eigene Logik, der subjektive Faktor spielte eine Rolle, unklar war auch, wer sich wie welcher Zukunft anpassen wollte. Auch das historisch verfälschte Bild einer national ausgewogenen Sowjetunion verstellte bei meinesgleichen lange den Blick auf die dortigen nationalen und ethnischen Konflikte.

 

Dass jetzt Juden nach Deutschland, aber nicht nach Israel ausreisen wollten, war für viele kaum zu verkraften. Persönliche, politische, kulturelle, historische Argumente gingen verwegene Verbindungen ein, doch ungeachtet aller politischen Wirrungen stand plötzlich diese ungeahnte Entscheidung für eine jüdische Zukunft in Deutschland an. Wir lebten damals noch in Tagträumen vom intellektuellen jüdischen Sein, erwarteten uns vertraute jüdische Intellektuelle aus sowjetischen Großstädten, aber so war es dann doch nicht.

 

In diesem Moment hat wohl niemand von uns geahnt, dass dieser Beschluss zur Grundlage für ein neues und anderes jüdisches Leben in Deutschland sein würde.

 Heute sehe ich in der Aktion unsere eigene Flucht nach vorn. Der Ruf „Wir sind ein Volk“ (nicht mehr „Wir sind das Volk“) schien unsere Gegenwart auszuschließen. Das Gewesene zerbrach. Was damals keine Rolle spielte, war die jüdische Religion. Wir dachten national, kulturell, biographisch oder ethnisch und entdeckten erst langsam unsere Sehnsucht nach den uns fremden Traditionen unserer ausgebürgerten, im Widerstand bewährten oder ermordeten Großeltern. Weder der Dachverband der Jüdischen Gemeinden der DDR, noch weniger der bundesdeutsche Zentralrat der Juden standen uns in jener Zeit als Gesprächspartner zur Seite. So lernten wir von und mit orthodoxen Rabbinern aus Israel, den USA und England nicht nur, was eine jüdische Einwanderung bedeuten würde, sondern auch, wie ihr jüdischer All- und Festtag funktioniert. Uns ging es um Solidarität, ihnen um ein religiöses Leben.

Unklar ist, ob und wann die jüdischen Funktionäre in Ost und West mit den Regierenden über diese Einwanderung verhandelt und über Integration nachgedacht haben. Belege sind nicht veröffentlicht. Zeitzeugen wie der damals Stellvertretende Präsident des DDR-Dachverbands Dr. Peter Kirchner verneinen eine solche Annahme.

 

Manche für uns wichtige Entscheidungen waren in diesen Tagen schon getroffen worden. So hatte die Modrow-Regierung die von den Nazis aufgelöste Israelitische Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel bereits im Dezember 1989 als eigenständige Gemeinde anerkannt, was wütenden Protest der auf Alleinvertretung bedachten Einheitsgemeinde West, genauer ihres Vorsitzenden Heinz Galinski hervorrief. Zum 1. März 1990 berief Premier Modrow mit Almuth Berger die erste (und letzte) DDR-Ausländerbeauftragte. Am 18. März 1990 waren ersten freien Wahlen in der noch-DDR, die CDU siegte. Am 12. April wurde der seit dem 18. November als Minister für Kirchenfragen in der Modrow-Regierung amtierende Rechtsanwalt Lothar de Maizière (CDU), der nicht nur für die Gemeinde Adass Jisroel ein verlässlicher Partner war, von der Volkskammer zum DDR-Ministerpräsidenten bestimmt. Seine Hauptaufgabe wurde die Beendigung der DDR als Voraussetzung der deutschen Einheit. Ebenfalls am 12. April 1990 hatte sich das DDR-Parlament aus historischer Verantwortung gegenüber verfolgten Juden und Israel solidarisch erklärt. Unter de Maizière wurde jetzt die am Runden Tisch beschlossene Grenzöffnung vorbereitet. Als Ausländerbeauftragte stellte Almuth Berger (Bündnis 90/Grüne) ihre Arbeitsgruppe zusammen, der auch ich angehörte. Wir arbeiteten mit ihr an der „jüdischen Einwanderung“, halfen aus Rumänien ins Land strömenden Roma, die von rassistischen Übergriffe bedroht waren, vietnamesischen und anderen Vertragsarbeitern, es ging um politische Flüchtlinge, um den Status der stationierten Sowjetsoldaten, um Einwanderungsregelungen und ein Asylrecht.

 

Das Gesetzgebungsverfahren für die jüdische Einwanderung war noch nicht einmal abgeschlossen, als die ersten aufnahmeersuchenden Touristen in Ostberlin eintrafen. Das Prozedere für sie war einfach. Wer sich als Sowjetbürger jüdischer Nationalität (Fünfter Punkt im Inlandspass) oder als Jude bzw. jüdischer Herkunft (eigene Geburtsurkunde, die der Eltern oder eines Elternteils) bei der DDR-Volkspolizei oder etwas später in den Ostberliner Aufnahmebüros meldete, erhielt die unbefristete DDR-Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, Krankenversicherung, Unterkunft, Verpflegung, Taschengeld. In der Sowjetunion muss sich diese Form der Grenzöffnung herumgesprochen haben, denn die DDR-Konsulate waren keine Informationsquelle. Der letzte DDR-Finanzminister Romberg (SPD) ordnete damals unbürokratisch Soforthilfe an und sicherte so Versorgung und Unterbringung, und Abrüstungsminister Eppelmann (Bündnis 90/Grüne) öffnete Kasernen, zunächst eine in Ahrensfelde bei Berlin. Am 22. Mai informierten wir vom Jüdischen Kulturverein Berlin den zuvor in Moskau akkreditierten und russisch sprechenden Korrespondenten der britischen Nachrichtenagentur Reuters. Ich erinnere mich an unsere Fahrt nach Ahrensfelde. Auf der Straße trafen wir einige an Kleidung und Habitus erkennbar sowjetische Eingewanderte, die er sofort interviewte. Um 13.55 Uhr wusste die ganze Welt: „Die DDR öffnet sich für sowjetische Juden.“ Wir waren glücklich.

 

Doch eine jüdische Einwanderung passte nicht ins neudeutsche Bild. Die Medien (bis auf das ZdF, dessen Korrespondent vom Kulturverein auf dem Laufenden gehalten wurde) mieden zunächst eine ausführliche Berichterstattung. Wir luden daraufhin Journalisten und Eingewanderte zu Zusammenkünften und Pressegesprächen ein. Erst nach und nach wurden die überraschenden Geschehnisse bekannt. Der JKV und die Gemeinde Adass Jisroel waren von Anfang an als jüdische Einrichtungen involviert, später übernahm die Jüdische Gemeinde Berlin (DDR), noch später auch die Westberliner Jüdische Gemeinde das Aufgabenfeld. Je mehr berichtet wurde, je mehr Einwanderer kamen, desto mehr Unterstützung kam aus der Bevölkerung. Wir lehnten die These des Jüdischen Dachverbandes der DDR ab, durch unsere Publizität würde der Antisemitismus geschürt und Antisemiten mobilisiert. Diese, so argumentierten wir, brauchten für ihre rassistische Logik keine wirklichen Juden, aber für alle anderen Menschen sei ein Mehr an Wissen und Informationen erforderlich.

Dieses Einwanderungsverfahren entsprach mitnichten den internationalen Regeln. Und doch gab es in jenen Monaten dieses jüdische Ticket in eine noch bestehende DDR. Der Zug fuhr jedoch in Richtung deutsche Einheit. Spätestens dann musste die sehr ungewöhnliche Einwanderung nachvollziehbar formalisiert werden. Darüber entschied Anfang 1991 die Bundesinnenministerkonferenz. Aus den Einwanderern wurden jetzt jüdische „Kontingent-Flüchtlinge“. Da war die DDR schon Vergangenheit.

 

Bis zum 3. Oktober 1990, dem Vereinigungstag, bestanden, was heute oft vergessen wird, zwei deutsche Staaten. Die volle Einheit begann mit dem Ende des Rechnungsjahres, also zum 1. Januar 1991. Deshalb führte die sowjetisch-jüdische Einwanderung eingangs nur in die DDR, nach Ostberlin, wo die Wohnungslage katastrophal, Telefonanschlüsse ein Privileg, aber Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe unbekannt waren. Die hier Ankommenden hatten mehr und anderes erwartet. Sie verstanden oft nicht, warum sie im Osten Berlins ausharren mussten. Es schien ihnen nicht logischr, dass der geographische Westen in dieser knappen Zeitspanne noch nicht der politische war, auf den sie mit ihrer Übersiedlung setzten.

Bis zum Oktober 1990 kamen etwa 2 000 Antragsteller, und warteten zumeist in Ostberliner Aufnahmeheimen auf den Beginn der neuen Zeit.

 

Der verstorbene Klaus Pritzkuleit, der als Bürgerrechtler auch am „Ausländertisch“ vermittelte, erklärte 18 Jahre später die Gründe für die jüdische Einwanderung wie folgt: „Diese humanitäre Pflicht angesichts der deutschen Vergangenheit war unsere einzige Chance.“ In der noch ungeordneten frühen Einwanderungszeit halfen der protestantische und der katholische Klerus nicht nur mit Unterkünften. In der ersten Aufnahmestelle Otto-Grotewohl-Straße übernahmen die Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde Ost die Verantwortung, später halfen Vertreter der Westberliner Gemeinde. Russische Sprachkenntnisse waren überall gefragt. An Wochenenden und Feiertagen arbeitete das Amt nicht. Da sprangen vor allem die Israelitische Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel und der Jüdische Kulturverein Berlin ehrenamtlich ein. Beide Organisationen wurden von der Jüdischen Gemeinde systematisch aus der Arbeit ausgegrenzt, was die Ankommenden aber nicht hinderte, dort auch oder gezielt dort nach Hilfe zu suchen.

Damals meinte das jüdische Funktionärsestablishment West, es dürfe keine unabhängige jüdische Einrichtung neben, also außerhalb des jüdischen Dachverbandes Zentralrat geben und der Dachverband DDR passte sich an. Obgleich Adass Jisroel und Jüdischer Kulturverein von der Jüdischen Gemeinde nicht einbezogen wurden, integrierte das Büro der Ausländerbeauftragten beide von Anfang an und verteilte die zur Verfügung gestellte Gelder entsprechend. Dagegen machte der Gemeindevorsitzende Heinz Galinski prinzipiell seine Einwände geltend.

 

Lothar de Maizière, bis zum 2. Oktober 1990 letzter Ministerpräsident der DDR, wollte, wie sich Almuth Berger, Klaus Pritzkuleit und andere erinnerten, den DDR-Beschluss zur jüdischen Einwanderung im Einigungsvertrag verankern, war aber bei den Verhandlungen nicht federführend. Später erklärte der Parlamentarische Staatssekretär Günter Krause im DDR-Ministerrat, er hätte das Anliegen erfolglos vorgetragen. Nach Vollzug der deutschen Einheit war die DDR-Volkskammer am 3. Oktober aufgelöst worden, Lothar de Maizière wurde Bundestagsabgeordneter und Minister für besondere Angelegenheiten im Kabinett Kohl, bevor man ihn durch Stasi-Vorwürfe belastete. Am 17. Dezember 1990 trat de Maiziere als Minister zurück, am 6. September 1991 gab er sein Mandat auf und verschwand in seiner Berliner Rechtsanwaltspraxis. Hans Misselwitz, Biochemiker, Bürgerrechtler und Staatssekretär im DDR-Außenministerium, war, wie er berichtete, weit vor Jahresende 1990 von BRD-Staatssekretär Sudhoff ins Bonner Auswärtige Amt „einbestellt“ und aufgefordert worden, die Ostberliner Einwanderungsmaßnahme zu beenden. Misselwitz lehnte das Ansinnen unter Verweis auf den „prinzipiellen Charakter des Volkskammerbeschlusses als Teil der außenpolitischen Konzeption der letzten DDR-Regierung“ ab.

Was wir damals auch nicht wussten: Diese ungeplante und aus bundesdeutscher Sicht auch im Hinblick auf Europa unpassende Einwanderung sollte mit der deutschen Einheit enden. Der bundesdeutsche Zentralrat der Juden hatte eingangs aus bundespolitischer und zionistischer Raison abgewartet, auch der Staat Israel war aus letzterem Grund nicht an dieser Einwanderung interessiert. Aus israelischer Sicht konnten Juden nur Wirtschaftsmigranten sein, weil Israel als jüdische Heimstatt für alle Juden gilt. Jüdische Flüchtlinge waren folglich in dieser Logik nicht denkbar. Das war wie Öl auf Mühlen anderer Einwanderungsgegner. Aber SPD-Abgeordnete, Gewerkschafter und Kirchenführer verlangten eine Fortsetzung der Einwanderung, allen voran ging nun der Zentralrat der Juden, und dass trotz israelischer Proteste. Auf Anraten von Bundeskanzler Kohl soll nach dessen Gespräch mit Heinz Galinski der damalige und später erneute Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im Februar 1991 auf der Bundesinnenministerkonferenz gegen den Willen mancher seiner Kollegen für eine schnelle und positive Lösung plädiert haben. Erreicht wurde eine Regelung in Anlehnung an die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, verwaltungstechnisch mit Aufwand verbunden, aber in jener Zeit der vermutlich einzige Kompromiss. In Anlehnung, weil die Fluchtbewegung sich nicht aus staatlicher Verfolgung gegen eine ethnische Bevölkerungsgruppe begründete. Geregelt war damit auch, dass jüdische „Kontingent-Flüchtlinge“ nicht nach dem Ende der Konflikte in die Heimatländer zurückkehren mussten.

 

Für Einwanderer auf dem „jüdischen Ticket“ konnte Deutschland zum Lebensmittelpunkt werden. Zwischen 1991 und 2005 reisten rund 230 000 Menschen im diesem Kontingent-Verfahren aus der Sowjetunion bzw. deren Nachfolgestaaten ein, darunter zahlreiche nichtjüdische Familienangehörige. Etwa 80 000 Jüdinnen und Juden wurden Mitglieder der Jüdischen Gemeinden. Seither hat sich die Zahl der Mitglieder auf insgesamt rund 110 000 verdreifacht. Die jüdische Bevölkerung in Deutschland wird heute auf etwa 200 000 Menschen geschätzt, geboren in vielen Ländern, zunehmend auch in Deutschland. Die sowjetischen Einwanderer waren meist Stadtbewohner mit Universitäts-, Hoch- oder Fachschulbildung. Von den 29 000 Gemeindemitgliedern in der Bundesrepublik waren 1990 nur rund 1 000 russischsprachig, im Jahr 2005 bereits etwa 98 000 der 108 000 Mitglieder. Die meisten stehen inzwischen im höheren Lebensalter.

 

Zu erwähnen bleibt, dass sich die deutschen Innenminister nach mehreren vertraulichen „Kamingesprächen“ unter TOP 35 im Jahr 2005 darauf einigten, diese Einwanderung zu begrenzen. Am 18. November 2005 legten sie Eckpunkte einer Neuregelung fest. Zum 1. Januar 2005 wurde die „Kontingentflüchtlingsregelung“ eingestellt. In einem Beitrag in „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 8/2005 habe ich dieses Vorgehen kritisch diskutiert. Dieser von Bundesinnenministerium, Zentralrat der Juden und World Union for Progressive Judaism ausgehandelte Kompromiss hat den Zustrom fast gänzlich zum Erliegen gebracht. Rückblickend aber ist die historische Logik der Entscheidung durchaus überzeugend. Am Ende ist die Einwanderungsgeschichte ein Erfolg geworden, eingeleitet am Zentralen Runden Tisch im Februar 1990, angeschoben durch den kleinen jüdischen Kulturverein Berlin, und nur, weil damals dem Rat eines orthodoxen Rabbiners gefolgt worden ist.



weiterführende Informationen

Auch die Jüdische Gemeinde zu Berlin war ab 1990 wegen jüdischer Einwanderer aktiv. Anat Bleiberg (heute Leiterin der Sozialabteilung) und Prof. Axel Azzola hatten damals mit DDR-Regierungsstelle (unter Modrow) Kontakt aufgenommen. 

 

http://www.berlin-judentum.de/gemeinde/migration-1.htm

 

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